Auslese



In loser Folge wollen wir für unsere Kunden die Früchte des weiten Feldes der Literatur ernten – die mit langer Haltbarkeit. Bücher also, die einen Weg in Ihren Bücherschrank finden sollen. Das Unkraut auszumerzen, überlassen wir den professionellen Feuilletonisten (und enthalten uns darum der Häme). Was Sie hier finden, ist sozusagen eine Spätlese, gleichwohl werden wir zuweilen dem Zeitgeist voraus sein, dann nehmen Sie die Auswahl für eine Vorlese. Im Jahr 2011 publizierten 2 243 Verlage in Deutschland 96 273 Titel – eine Auslese tut also not. Dass die Auswahl sehr subjektiv ist, bedarf deshalb naturgemäß keiner Erklärung. „Nicht zurückweisen, sondern bevorzugen“, rät Gómez Dávila. Daran wollen wir uns halten. Damit die leisen Töne nicht im Alltagslärm untergehen (wenn wir mit dem Mainstream übereinstimmen, ist das Zufall), preisen wir auch und gerade das Unauffällige, das Abseitige und Unbekannte. Bestseller bedürfen keiner Unterstützung. Die Auflagenzahl garantiert nicht für die Qualität eines Werkes, wie umgekehrt die Güte nicht für den Umsatz.

Scheuklappen braucht das Pferd, das nicht vom Weg abkommen soll. Der Autor wie der Leser möchte demgegenüber seinen eigenen Weg gehen. Darum äsen wir überall – auf den Feldern der Belletristik, der Wissenschaft oder wo sonst Zuträgliches sich findet. Wenn uns dabei der Gaul durchgehen sollte, bitten wir schon im Vorhinein um Nachsicht.

Gewarnt sei darum vor den ersten Empfehlungen schon jetzt: Vorsicht, Philosophie! Aber ein jeder, der sein Stöckchen in das grenzenlose Meer des Seins taucht und das Kräuseln der Oberfläche, das er verursacht, für eine Flut hält, tut gut daran auf vorbeirauschende Ozeanriesen zu achten. (WK)









erschienen bei: Aufbau Verlag







Ronja von Rönne

Wir kommen

Polyester. Sprechen Sie die Silben deutlich, kleine Pause nach der zweiten, die dritte betont und lange: Po-ly-ēs-ter. Sie kennen die Fasern (das famose Trevira) aus Polyethylenterephtalat und Ethylenglykol. Wenn Sie es richtig aussprechen, treibt es Ihnen den Geschmack auf die Zunge: künstlich. Sie erkennen seine Herkunft aus den Giftküchen der chemischen Industrie, wenn Sie es als Kleidungsstück auf der Haut tragen oder auf den Tisch stellen in Form einer PET-Flasche. (Nebenbei: PET feiert in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag. Nein, wir sprechen hier nicht über Weichmacher, Nervengift und Schwermetall.)

„Polyesterleben“ kennen Sie nicht, noch nicht. Aber Sie kennen Menschen, die immer zuerst nach dem Beruf fragen: „Und was machen Sie beruflich?“ Auf Partys zum Beispiel, Poolpartys. Da trifft Ghostwriter (Sachbuch) auf Zukunftsforscher, Regisseur flieht vor Soapdarsteller. Die Radioredakteurin ist Veganerin. Man trinkt Gimlets oder das ein oder andere Glas Cremant, kokst ein bisschen, bringt ausgefallene Gastgeschenke mit, knüpft Kontakte, baut am Netzwerk – Polyesterleben. Lebensdarsteller treffen sich, namenlose, aber trés chic. Rollendarsteller.

Wir leben im Land der Schönebergers, Jauchs, Fischers (Helene), wir kaufen Frischkäse oder leckeren Kartoffelsalat, eröffnen ein Konto bei der Postbank und schauen mal kurz bei Tchibo rein – Polyesterleben.

Die Straße war leer. Dies war Deutschland.

Die Zukunft ist die Gegenwart, sie wird die gleichen Namen tragen, nur die Ziffern ändern sich (iPhone19). Und die Gegenwart? In den Familien wird nicht mehr geredet, vielmehr geschwiegen, weil die Welt der Dinge (Rasenmäher, Staubsauger, Fön – Maschinen eben) uns und allen anderen Schweigen auferlegt. Da wird das Putengeschnetzelte im Sonderangebot zum Highlight. Die hehre Wahrheit, wenn sie denn zutage tritt, ist reduziert auf das Eingeständnis der eigenen Nacktheit.

Werte? Abendland? War da was? Was sich nicht in Zahlen ausdrücken lässt mit diesem magischen Zeichen dahinter (hundertpro) – Tinnef, Mumpitz ... Standort statt Heimat, Markt statt ...

Ach, das wissen Sie schon alles? Alter Hut?

Und jetzt lehnt die Rönne auch noch einen Preis ab? Wenn Sie in das gleiche Horn stoßen wollen, wie die Studien und Statistiken, die Aufschluss über unsere Jugend (Man ist geneigt den Plural, den es nicht gibt, zu verwenden.) geben (Nein, wir wiederholen das nicht, weiß eh jeder.), dann lesen Sie dieses Buch nicht. Aber vielleicht wollen Sie einer 24-Jährigen mal zuhören, was sie so zu erzählen weiß. Das ist klug, das ist witzig. Verletzlichkeit, die nicht in Häme, Spott oder Kaltschnäuzigkeit gipfelt. Treffend, hart und doch zauberhaft einfühlsam, ganz ohne Provokation und doch aufwühlend. Das ist leichtfüßig, manchmal poetisch. Oberflächlich ist es nicht.

... dein goldenes Haar, Maja ...

Ein Buch für Junge, die sich vor dem Erwachsenwerden fürchten, und für Erwachsene, die nicht vergessen haben, dass Reife nichts mit dem Alter zu tun hat. Im Berufsfeuilleton hat man nicht immer unbedingt verstanden, dass Gedanken, die mit Taubenfüßen daherkommen, auch große Ideen sein können. Die erste Auflage ist fast weg. Glückwunsch. (WK)



erschienen bei: Suhrkamp





György Konrad

Gästebuch

Wem der Zufall so in die Parade fährt, flieht die Gewissheiten. Der Zweifel wird sein ständiger Begleiter, die Skepsis bewahrt ihn vor vorschnellen Schlüssen und die Identität wird ihm ein Rätsel, ein Anstoß zum Infragestellen bleiben.

Kalligaro ist zurück! Ruhiger, aber keineswegs versöhnlicher und sein Lebensthema erscheint nun im Untertitel: die Freiheit. Nachsinnen über die Freiheit ist denn auch im Gegensatz zum Titel Gästebuch der eindeutigere Hinweis für die Lektüre. Im Jahr 2007 erschien Das Buch Kalligaro. Dort die Zeilen unter dem amüsanten Zwischentitel Ermunterung zur Levitation als Zwischenbilanz: Geboren wurde er 1933, heute schreibt man das Jahr 1999, sechsundsechzig Jahre sind seither vergangen: 33-66-99. Eine schöne diabolische Zahlenreihe. Hat er sich dem Teufel weltlicher Eitelkeit verschrieben? Dem Schwinden entfloh er durch Intensivierung des Lebens, wozu sich auch Wichtigtuerei gesellte. Zufällig 1933 zufällig in Ungarn geboren hält das Leben für György Konrád mehr Prüfungen bereit, als ein einziger Mensch zu bestehen in der Lage sein könnte. Und doch überlebt er als einziges Kind seiner Schulklasse, weil er 1944 der Deportation entgeht. Dem Naziterror folgt die sowjetische Unterdrückung. Dem Intellektuellen ist das Schicksal des Außenseiters beschieden. Dem Antisemitismus des ersten Lebensjahrzehnts folgen die Jahrzehnte des Dissidententums, um nach der Öffnung zum Westen hin im Ungarn des feinen Herrn Orban wieder der Pest des Antisemitismus zu begegnen. In Konráds Worten: Der neue christlich-nationale Kurs bringt die Phraseologie der Vorkriegszeit zurück, beschönigt die Ermordung der Juden und will glauben machen, dass sie die Ursachen und Gründe für vierzig Jahre Kommunismus zu verantworten hätten. Doch das Jammern ist seine Sache nicht, die Antwort auf so viel Ungemach nicht eine Flucht in den Glauben und kein Beugen der Knie, auch nicht das Heil in der Demut, sondern der klare Blick, den die Skepsis ihm auferlegt. Dieses Buch kommt zur rechten Zeit: Sich erinnern heißt lernen lautet ein Zwischentitel, und es schließt mit den Worten: Wessen bedarf es, wenn intelligente, gebildete und vernunftbegabte Menschen das Verderben von Menschen, die sie persönlich nicht kennen, nicht nur hinnehmen, sondern sogar billigen und befördern? Wer sich nicht erinnern mag, der lässt auf Flüchtlinge schießen. Aus dem Zufall wird Schicksal, das von denen getragen werden muss, die nicht das große Rad drehen. Der Schluss à la Kalligaro: Selbst wenn du nur allein sie vertrittst, wird aus einer Wahrheit kein Irrtum. Das Leben geht eben nicht in Zugehörigkeiten auf, es widersteht in seiner Einmaligkeit abstrakten Kategorien. Das Subjekt ist keine moralische Größe. Die Kunst zu überleben ersetzt nicht die Lebenskunst, die nichts weiter ist als die Praxis der Freiheit. Konrád lädt sich Gäste ein, die den Blick zurück und in die Zukunft werfen. Wer Verantwortung für die Zukunft übernimmt, der muss auch Verantwortung für die Vergangenheit übernehmen. Die intellektuelle Macht dient der intellektuellen Autonomie, die nichts gemein hat mit der Flucht in Verallgemeinerungen. Um die Massen zu gewinnen, bedarf es intellektuellen Kitsches. Solcherart wie er uns wieder reichlich, wenn auch nur scheinbar wissenschaftlich verbrämt, völkisch serviert wird. Unsichere Menschen urteilen mit Sicherheit. Ein reiches achtzigjähriges Leben schüttet seine Erkenntnisse im Nachsinnen über die Freiheit aus, ein unprogrammatisches Lebensregister. Ich bin den Lehren und Religionen entglitten; nichts steht über dem Leben des Einzelnen. Sollte man eine andere Summe des Lebens ziehen? Ein anderes Motto als das folgende: Wir beugen uns vor niemandem, höchstens vor unserem kleinen Enkel. So prallvoll mit Leben, so prallvoll mit Weisheit. Das Buch der Stunde, wenigstens bis zum Herbstprogramm. (WK)